Ich bin ja durch die Lektüre von Karen Duves Buch "Anständig Essen" zum vegan lebenden Menschen geworden, weil es mir endgültig den Blick hinter die Kulissen des grausamen und gewaltvollen Systems des Tierverbrauchs öffnete und bestätigte, was ich vorher schon dunkel geahnt aber irgendwie noch immer verdrängt hatte. Und dieser Blick reicht ja auch eigentlich für den rein intuitiven Entschluss, sich an diesem System nicht mehr länger mitschuldig machen zu wollen.
Nun bin ich aber auch philosophisch interessiert, und da trifft es sich, dass es mit dem Buch "Artgerecht ist nur die Freiheit" von Hilal Sezgin ein wunderbares Werk einer studierten Philosophin gibt, das das Thema Tierethik auch aus wissenschaftlich-rational-logischer Perspektive genau beleuchtet. Das beste an diesem Buch ist, dass es fast völlig ohne akademisches Fachchinesisch auskommt (und wo doch Fachbegriffe verwendet werden, werden sie sehr gut erläutert) und dass es die philosophischen Gedankengänge auch für Laien gut verständlich darlegt. Und im Gegensatz zu vielen anderen philosophischen Werken entwickelt es diese Gedankengänge nicht im rein Abstrakt-Theoretischen, sondern verwendet als Basis den aktuellen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften, insbesondere der Biologie und der Evolutionsbiologie. (Wobei nicht unterschlagen wird, dass paradoxerweise viele der naturwissenschaftlichen Erkenntisse auf Experimenten an und mit Tieren beruhen, die aus ethischer Sicht wiederum gar nicht zu rechtfertigen sind.) So schränkt Hilal Sezgin ihre tierethischen Überlegungen auch gleich zu Anfang auf solche Tiere ein, die ein zentrales Nervensystem oder etwas Vergleichbares besitzen, also Wirbeltiere und einige wenige Weich- und Schalentiere wie Kraken und Hummer. Damit sind Insekten und z.B. Regenwürmer oder Quallen erst mal außen vor. Bei ihnen kann man schlicht nicht plausibel begründen, dass da ein bewusstes Erleben, also ein anderer "Jemand" ist, dessen Interessen zu berücksichtigen wären, selbst wenn es von den Aktionen und Reaktionen z.B. einer Schnecke für uns so aussieht. Kühen, Schweinen, Hühnern oder Fischen kann man aber umgekehrt nicht mehr ernsthaft ein bewusstes Erleben in Abrede stellen.
So habe auch ich mir in der Vergangenheit schon gelegentlich überlegt, ob ich jetzt als Veganer auch strikter Anti-Speziesist sein muss, oder ob man nicht irgendwie zwischen Tieren verschiedener Komplexität abstufen kann und trotzdem den in unserer Gesellschaft institutionalisierten Tierverbrauch ablehnen kann bzw. sogar muss. Man bekommt beim Bekenntnis zum Veganismus ja immer wieder mal den Vorwurf zu hören, man würde Menschen und selbst noch die einfachsten Tiere auf eine Stufe stellen. Sezgin beleuchtet, dass ein "milder Speziesismus" zumindest verständlich ist, aber andererseits auch sehr enge Grenzen hat, also nicht zur Rechtfertigung unseres heutigen Umgangs mit leidens- und erlebensfähigen Tieren taugt.
Das Buch hilft einem als vegan lebenden Menschen insbesondere dabei, die zahlreichen Trug-, Fehl- und Zirkelschlüsse zu erkennen, die in den scheinbaren Argumenten und Rechtfertigungen stecken, welche einem immer wieder gerne von tierverbrauchenden Mitmenschen entgegengehalten werden. Wie z.B. das, wonach es die Tiere, die sie essen, ja gar nicht gäbe, wenn sie nicht zum Verzehr gezüchtet würden. (D.h. die Tiere können uns Menschen sogar noch "dankbar" sein, dass sie von uns ins Leben gebracht werden, auch wenn dieses aus Menschensicht nur dazu bestimmt ist, verwert- und essbares Körpermaterial hervorzubringen.)
Auch ist es geeignet, einen vor bestimmten Richtungen der Philosophie zu bewahren, die zwar zum Teil zu Ergebnissen kommen, die man sich als Tierfreund wünscht, dies aber wie der Utilitarismus eines Peter Singer auf einer fragwürdigen Grundlage tun, welche dem einzelnen erlebensfähigen Individuum (dem "Subjekt") nicht das unveräußerliche Recht am eigenen Leben und am eigenen Körper zugesteht.
Als bereits überzeugter ethischer Veganer musste ich beim Lesen dieses Buches immer wieder unwillkürlich mit dem Kopf nicken, weil die Überlegungen auch meine eigenen hätten sein können, nur dass ich sie nie so klar und überzeugend hätte formulieren können.
Es werden auch die "gegnerischen" Standpunkte und Argumente erwähnt, wobei aber dennoch eines deutlich wird: Jeder heutige Ethiker von Rang gibt zu, dass die Zustände in der heutigen Massentierhaltung aus ethischer Sicht schlicht verwerflich sind. Und damit ist es auch der Kauf der Produkte aus dieser Haltung, also letztlich aller Produkte im Supermarkt, im Restaurant oder in der Kantine, die Fleisch, Tiermilch oder Eier enthalten. Was immer also Otto und Liese Normalverbraucher als Rechtfertigung des Kaufs und Konsums dieser Produkte ins Feld führen mögen: Auf heutige Philosophen können sie sich dabei jedenfalls nicht stützen.
Ich empfehle wirklich allen Deutschsprachigen und Lesekundigen die Lektüre dieses hervorragenden Buches. Es eignet sich sicher auch als Geschenk an vielleicht noch nicht vegane, aber philosophisch interessierte Zeitgenossen.
Hilal Sezgin: "Artgerecht ist nur die Freiheit - Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen", Verlag C.H. Beck, München 2014, Paperback € 16,95