Samstag, 25. Mai 2013

Nachtrag: Karnismus

Buchcover: Melanie Joy - Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen
Ich mag es, wenn bestimmte äußere Impulse mich zum Nachdenken bringen und wie ich erst am Tag nach dem Vortrag von Prof. Melanie Joy gemerkt habe, war er ein solcher Impuls. (Begeistert war ich von dem Vortrag ja ohnehin - was man hoffentlich meinem unmittelbar danach verfassten Post auch anmerkt.)

Beim Nachdenken über den Vortrag und auch über die anschließende Frage- und Antwortrunde sind mir noch ein paar Punkte eingefallen, die hier unbedingt noch erwähnt werden sollten:
  • Joy wurde nach ihrem Vortrag unter anderem sinngemäß danach gefragt, wie  man sich als "Veggie" zu seinen im Karnismus befangenen Mitmenschen verhalten soll und wie man versuchen kann, sie auf die "gute" Seite zu ziehen.

    Sie riet dann ebenfalls sinngemäß dazu, mit anderen offen über das eigene Wissen und die eigenen Vorstellungen zu sprechen, aber sie nicht moralisch zu verurteilen oder in irgendeiner anderen Art verbale Aggression auszuüben.

    Sie empfahl jedem "Anti-Karnisten" dringend, sich mit Gewaltfreier Kommunikation zu beschäftigen - einem von Marshall B. Rosenberg geprägten Begriff - bevor er oder sie überhaupt in Diskussionen mit anderen über entsprechende Themen einsteigt. (Das werde ich auf jeden Fall in der nächsten Zeit einmal beherzigen.) Der Begriff des Karnismus sollte also auf keinen Fall dazu gebraucht werden, Nicht-Veganer als "Karnisten" zu beschimpfen oder herabzuwürdigen. Dieser Begriff richtet sich gegen ein gewaltsames System, nicht gegen Menschen.

    Dieser Rat ergibt aus meiner Sicht vollkommenen Sinn, denn mit Aggression oder auch nur verbaler Gewalt gegen die an Tieren verübte Gewalt einzutreten wäre widersprüchlich und letztlich auch ineffektiv, d.h. nicht zum Ziel führend, da die jeweiligen Gespächspartner diesen Widerspruch bemerken würden und die per se ja guten Argumente gar nicht mehr an sich heranlassen würden.

    Er gibt auch aus der Theorie des Karnismus selbst Sinn, denn man darf Menschen nicht dafür verurteilen oder in irgendeiner Weise herabsetzen, dass sie in einem unsichtbaren Glaubenssystem befangen sind. Hier hilft es meines Erachtens nach auch, sich immer wieder daran zu erinnern, dass man (in aller Regel) selbst einmal darin befangen war.
     
  • Eine weitere Frage bezog sich auf das Verhältnis der Theorie des Karnismus zu der des (Anti-)Speziesismus. Prof. Joy beantwortete sie dahingehend, dass  Karnismus eine spezielle Ausprägung von Speziesismus sei.

    Erst durch anschließende Recherche im Internet habe ich herausgefunden, dass Joys Thesen unter Veganerinnen, Tierrechtlerinnen und Anti-Speziesistinnen teilweise umstritten sind und sie dafür von manchen auch angefeindet wird. Einzelne Tierrechtler argumentieren, dass es keines neuen Begriffes wie des Karnismus bedürfe, da der Begriff des Speziesismus bereits ausreichend sei und man ihm den Anti-Speziesismus und/oder den Veganismus entgegensetzen könne.

    Soweit ich  Anti-Speziesismus verstanden habe, beruht er auf der Vorstellung, dass die willkürliche Nichtanerkennung der Lebens- und Freiheitsrechte von nicht-menschlichen Tieren ein ähnliches Unrecht sei, wie die willkürliche Nichtanerkennung der Lebens- und Freiheitsrechte anderer Menschengruppen, also wie z.B. der Rassismus (Nichtanerkennung der Rechte der Menschen anderer Hautfarbe oder Ethnie) oder wie der Sexismus oder die Homophobie  (Nichtanerkennung der Rechte von Menschen anderer geschlechtlicher oder sexueller Identität).

    So sehr ich mit dem anti-speziesistischen Standpunkt auch symphatisiere, sehe ich persönlich damit folgendes Problem:
    Man kann tatsächlich logisch und ethisch widerspruchsfrei ein Speziesist sein. Man kann z.B. behaupten oder erklären, dass Menschen bestimmte Eigenschaften oder Merkmale haben, die es begründen, dass nur ihnen Lebens- und Freiheitsrechte zustehen und nicht-menschlichen Tieren eben  nicht. Manche billigen nur dem Menschen eine unsterblichen Seele oder ein Ich zu, die oder das die qualifizierende Eigenschaft für Lebens- und Freiheitsrechte sei.

    Wenn man wie ich ein naturalistisches Weltbild pflegt und die Evolution als vollständig bewiesene Tatsache anerkennt (woraus sich ein Kontinuum kognitiver Fähigkeiten ergibt und eben keine qualitativen Sprünge oder "göttlichen Funken"), erscheint einem das natürlich wenig plausibel und es ist schon gar nicht wissenschaftlich begründbar. Auch erscheint es wenig plausibel, dass gerade die behauptete, nur dem Menschen zukommende Eigenschaft ihn für Lebens- und Freiheitsrechte qualifizieren sollte. (So ist z.B. komplexes sprachliches Denken wohl tatsächlich nur dem Menschen möglich, aber wieso sollten Lebens- und Freiheitsrechte ausgerechnet daran geknüpft werden? Wir billigen völlig zu Recht ja auch Menschen ohne diese Fähigkeit ein Lebensrecht zu.)

    Persönlich würde ich dann die Grenze schon eher an einer bestimmten Anzahl von Neuronen (z.B. eine Millionen) festmachen, unterhalb derer die kognitiven Fähigkeiten eines Tieres wahrscheinlich so gering sind, dass es weder echtes Leiden empfinden, noch einen Lebens- oder Freiheitsdrang haben kann, auf den Rücksicht zu nehmen ethisch geboten wäre.

    Ich will darauf hinaus, dass Speziesmus als willkürliche Grenzziehung zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren für mich zwar ebenso unplausibel und mir ebenso zuwider ist wie jeder Anti-Speziesistin, dass man aber Speziesistinnen auch nicht durch gute Argumente von ihrer Position abbringen kann, da man diese Position eben logisch und ethisch widerspruchsfrei vertreten kann.

    Daher wird es wohl in den nächsten hundert Jahren kaum möglich sein, einen gesellschaftlichen anti-speziesistischen Konsens herzustellen.

    Und hier kommt jetzt der Begriff des Karnismus in's Spiel. Beim Karnismus als spezieller Art des Speziesismus lassen sich sehr wohl logische Brüche und ethische Widersprüche aufweisen. Es lässt sich eben nicht widerspruchsfrei begründen, dass Golden Retriever kein Essen für Menschen sein dürfen, Schweine aber schon. Die meisten Menschen würden das, was in den Tierfabriken passiert, aus tiefstem Herzen verabscheuen, wenn sie es sich mitansehen müssten. Das System des Karnismus sorgt aber eben genau dafür, dass dies nicht der Fall ist. Melanie Joy hat dieses System mit einem Kartenhaus verglichen, für dessen Fortbestehen ein riesiger Aufwand betrieben werden muss und betrieben wird. Zeigt man genügend Menschen die Widersprüche in diesem System auf und entziehen diese ihm dann die notwendigen Mittel für seine Aufrechterhaltung, so wird dieses Kartenhaus unweigerlich zusammenstürzen und es kann in der Gesellschaft ein breiter anti-karnistischer Konsens entstehen. Schon bevor ich Joys Vortrag gehört habe, habe ich öfter den Gedanken gehegt (und gepflegt), dass in zehn oder spätestens zwanzig Jahren Fleischkonsum gesellschaftlich mindestens ebenso verpönt sein wird wie heutzutage schon das Zigarettenrauchen. Und dann wird man sich als nächstes die Umstände der Milch- und Eierproduktion näher ansehen. (Dazu muss ich sagen, dass ich die soziale Ausgrenzung von Rauchern zumindest dort, wo sie sich freiwillig nur selber schädigen, schon für völlig übertrieben halte. Warum soll es keine Raucherclubs geben dürfen, in denen Raucher freiwillig unter sich bleiben? Aber ich weiß auch, dass das ein kontroverses Thema ist, an dem sich die Meinungen extrem spalten.)

    Der Begriff des Karnismus steht also nicht in Konkurrenz zu dem des Speziesismus, sondern liefert die Perspektive, schneller und friedlicher an das Ziel einer Gesellschaft zu kommen, in der keine Form der Gewaltausübung gegen Tiere (und das schließt Menschen mit ein) mehr akzeptiert wird.
     
  • Joy wurde auch danach gefragt, ob denn Vitamin-B12-Supplemente überhaupt vegan seien. Sie sagte richtigerweise, dass sie das in aller Regel seien (sie sind ja auch dann als solche meist gekennzeichnet) und leider nicht ganz richtigerweise, dass B12 ja auch in Würzhefe enthalten sei, wobei sie auch darauf hinwies, dass sie keine Ernährungsspezialistin sei. Das hat mich dann doch etwas überrascht, denn auch ohne Ernährungsspezialisten zu sein, sollten vegan lebende Menschen -zu denen sie ja wohl auch zählt- in aller Regel wissen, dass nicht-synthetisches Vitamin B12, wie es in Lebensmitteln wie Würzhefe vorkommt, eben nicht (gesichert) die Form von B12 ist, die der Körper verwerten kann.

    Ich bin auch nur ein in Ernährungsfragen interessierter Laie, kann mich da aber auf den im Internet leicht zu recherchierenden Stand der Forschung und meine eigenen anhand von Messungen gemachten Erfahrungen stützen, die ich in diesem und diesem Post zusammengefasst habe.
     
  •  Schließlich habe ich den Vortrag von Melanie Joy auch noch als Internet-Video gefunden. Dies ist eine Aufzeichnung von einer Veranstaltung meines "Lieblings-Ernährungs-Gurus" Dr. John McDougall. In dieser Version des Vortrags werden statt der Zahlen für die EU die für die USA genannt, aber die Größenordnungen sind genau die selben. Für alle Interessierten und des Englischen aureichend Mächtigen: Sit back, listen and enjoy:



    (Der vierminütige Einspielfilm mit Szenen aus Tier- und Schlachtfabriken ist leider alles andere als "enjoyment", aber er zeigt eine sorgfältig verborgene Wahrheit und kann damit laut Melanie Joy zu einem gestiegenen Bewusstsein und somit letztlich auch zu einer Bereicherung für das eigene Leben und die eigenen Entscheidungen beitragen.)