Freitag, 24. Mai 2013

Karnismus

Buchcover: Melanie Joy - Warum wie Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen
Ich weiß nicht, ob es anderen Veganern auch so geht, aber ich frage mich seit meinem durch bessere und höhere Einsicht motivierten Umstieg des öfteren, warum ich nicht schon viel früher dahin gekommen bin und wie ich es zu meinen vorveganen Zeiten geschafft habe, mein Selbstbild als ein um das Gute bemühter Mensch in Einklang mit dem Konsum von Tierleichenteilen zu bringen. (Okay, als Kind hatte ich schon einmal eine längere vegetarische Phase - an vegan war noch nicht zu denken, von den Umständen der Milch- und Eierproduktion wusste ich auch schlicht nichts. Aber irgendwie bin ich dann wieder von diesem ja richtigen Weg abgekommen.) Ebenso geht es mir im Hinblick auf die vielen anderen, mir nahe stehenden Menschen, die ich als gute Menschen ansehe, die aber eben diesen Konsum bis in die Gegenwart praktizieren.

Seit heute abend glaube ich, das etwas besser zu verstehen, denn ich habe im Bürgerhaus Stollwerck in Köln einen Vortrag von der Sozialpsychologin Prof. Melanie Joy gehört, der nicht nur äußerst erkenntnisreich, sondern zugleich über weite Strecken auch tief bewegend war. (Es war nur ein glücklicher Zufall, dass ich vor drei Tagen beim Surfen durch verschiedene vegane Blogs noch rechtzeitig vor dem Termin in Köln von Melanie Joys Vortragsreise erfahren habe.)

Die relativ junge Professorin (mein Jahrgang) der Universität von Massachussetts in Boston und Autorin des Buches "Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen" erklärt die Tatsache, dass viele Menschen mit ihrem Konsumverhalten zu einer Ausübung extremer Gewalt gegen liebenswerte, fühlende Mitwesen beitragen, die sie für gewöhnlich aus tiefstem Herzen verabscheuen würden, mit dem Konzept des "Karnismus". Dies ist ein kulturell bedingtes, aber innerhalb der Kultur unsichtbares Glaubenssystem, das es den Menschen gestattet, bestimmte Tiere als persönlichkeitslose und letztlich dinghafte Konsumgüter zu sehen, während wir doch von unseren Haustieren letztlich alle wissen, dass sie Individuen mit eigenen Merkmalen und eigenen Wünschen und Vorlieben sind, zu denen in jedem Fall auch der Wunsch nach Leben gehört. Es gibt also eine "Lücke" zwischen dem, was wir intuitiv fühlen und wissen, und dem, was wir als Nichtveganer im Alltag praktizieren.

Dieses Glaubenssystem ist, wenn es als solches erst einmal erkannt ist, bei Lichte betrachtet absurd. Da jedoch auch eine milliardenschwere Industrie daran verdient, wird alles getan, um das Glaubenssystem aufrecht zu erhalten. (Es wieder völlig unsichtbar zu machen, ist laut Melanie Joy schon nicht mehr möglich. Dazu sind schon zu viele Menschen aufgewacht und haben es durchschaut. Ihnen fehlt oft nur noch die Sprache, das Glaubenssystem als solches zu benennen, und dafür wiederum ist der Begriff des Karnismus geeignet.)

Ein Beispiel dafür, wie dieses von Profit-Interessen geförderte Glaubenssystem wirkt:
Wählen Sie eine der folgenden Optionen:
In der EU werden über 14.000 Landtiere
  • a) pro Monat,
  • b) pro Woche,
  • c) pro Tag,
  • d) pro Stunde oder
  • e) pro Minute
zum Verzehr getötet.

Die meisten Menschen in unserer Kultur würden wohl auf Option c) oder d) tippen, denn wir sind ja keine Barbaren, oder? In Wahrheit ist aber tatsächlich Option e) die richtige, d.h. es wird in der Tat in jeder Minute die unglaubliche Zahl von 14.000 Landtieren getötet.

Nun fragen Sie sich einmal, wieviele lebende Kühe, Schweine oder Hühner Sie
a) heute, b) in dieser Woche oder c) in diesem Monat gesehen haben.
Wahrscheinlich nicht sehr viele, oder?

Ist das nicht eine ungeheure Diskrepanz zu der Zahl getöteter Tiere? Ja, aber sie erklärt sich eben dadurch, dass die meisten der als Waren be- und gehandelten Tiere niemals den freien Himmel zu Gesicht bekommen, sondern ihr kurzes Leben in riesigen Tierfabriken fristen, deren Inneres wiederum Sie niemals zu Gesicht bekommen werden. Dafür sorgt die Tierindustrie mit schärfsten Maßnahmen und wird dabei auch vom Gesetzgeber unterstützt. Transparenz ist hier nicht gewollt, denn sie würde die Absurdität des Glaubenssystems des Karnismus deutlich werden lassen.

Dazu bringt Prof. Joy ein passendes Zitat von Voltaire:
"Wer dich veranlassen kann, Absurditäten zu glauben, der kann dich auch veranlassen, Gräueltaten zu begehen."

Ein anderes Beispiel für das Glaubenssystem:
Vervollständigen Sie die folgende Aussage über Fleichkonsum durch die drei "N" der Rechtfertigung:
"Fleischkonsum ist n... , n... und n...".
Mit ein bisschen Nachdenken kommt in unserer Kultur jeder sofort darauf: "normal, natürlich und notwendig".
Die Aussagen, dass Fleischkonsum normal und natürlich sei, gelten aber wiederum nur innerhalb vom Karnismus vorgegebener Bezugsrahmen, außerhalb dieser sind sie nicht gültig. Die Aussage, dass Fleischkonsum notwendig sei, ist sogar längst widerlegt. Aber allein die Tatsache, dass diese drei "N" jedem sofort einfallen, zeigt die Dominanz und Allgegenwärtigkeit dieses Glaubenssystems.

Melanie Joy zeigt auf, dass das Durchschauen des Karnismus als herrschendes und gewaltsames Glaubenssystem einem erst und endlich eine echte Wahl ermöglicht, nämlich auch die Wahl, diesem System zu entsagen und sich bewusst für das zu entscheiden, von dem man intuitiv bereits weiß, dass es das Richtige ist.

Für uns bereits "konvertierte" Veganerinnen und Veganer ist das Schöne an Melanie Joys Konzept, dass es den gängigen Vorwurf, wir würden einem Glaubenssystem oder einer extremen Ideologie anhängen, auf die zurückfallen lässt, die ihn erheben. Denn selbst wenn Veganismus eine Ideologie sein sollte, so ist der Karnismus jedenfalls mindestens ebenso ideologisch. Doch während der Veganismus als Ideologie gewaltfrei und sogar gewaltablehnend ist, ist die Ideologie des Karnismus eine äußerst gewaltsame. (Wie gewaltsam, das wurde während des Vortrags durch ein 4-minütiges Video mit Szenen aus den Tier- und Schlachtfabriken deutlich. Szenen, die Otto und Ottoline Normalverbraucher auch niemals zu Gesicht bekommen und daher bei ihrem Einkauf im Supermarkt auch nicht in ihre Kaufentscheidungen einbeziehen können.)

Ich habe mir nach dem Vortrag direkt Prof. Joys Buch gekauft. Selbst wenn es nur die im Vortrag enthaltenen Punkte darstellen sollte, wäre es in jedem Falle schon ein absoluter Lesetipp. Ich werde aber nach der Lektüre hier sicher noch einmal eine auf dem gesamten Inhalt fußende Bewertung bringen.

Ach ja, eine Website zum Konzept des Karnismus gibt es auch schon:
http://www.carnism.eu 

Nachtrag: Den Vortrag von Melanie Joy mit US-amerikanischen statt EU-Zahlen kann man übrigens hier ansehen:


Noch ein Nachtrag: In diesem Beitrag folgen noch ein paar wichtige Nachgedanken.